Ein Brief an… Angela Merkel, die letzte bemerkenswerte Staatsoberhaupt der EU

Die europäische Union ist eine Union von Völkern, die zugleich viel und wenig in gemeinsam haben. Viel, denn ihr Alltag ist ähnlich und ihre Geschichte untrennbar. Wenig, denn jedes dieser kleinen Länder besitzt seine eigene Kultur, seine eigene Sprache und daher auch seine eigenen Spezifitäten. Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat Deutschland viel gelitten. Es hat es verdient und bezahlt dafür immer noch den Preis. Es wurde jedoch dazu fähig, sich allmählich wieder zu erheben und seinen Platz in der heutigen Welt zu finden. Heutzutage sind die jungen Deutschen, die ich kenne, keine kriegslustigen Menschen. Sie sind einfach nur junge Menschen, wie man sie europaweit findet. Und die jungen Menschen durchaus der EU nehmen diesen jungen Deutschen keineswegs übel.

Meine Großeltern – die immer noch leben – haben den Krieg erlebt. Sie haben verzogen. Als ich begonnen habe, Deutsch zu lernen, haben sie mir gesagt „Wenn es dich glücklich macht, dann sind wir auch glücklich“. Sie vergessen nicht, aber sie sind sich auch daran bewusst, die heutigen und künftigen Generationen sollen in keinem Fall das Gewicht der Vergangenheit auf seinen Schultern tragen. Die haben sogar Deutschland und Österreich besucht, insofern als sie dort in den 90er im Urlaub gefahren sind.

Auf meiner Seite habe ich Deutsch weiter gelernt, zuerst im Collège, dann im Gymnasium und dann an der Uni. Die Möglichkeit – die Chance – habe ich sogar gehabt, in Deutschland mit dem DAAD und in Österreich mit Erasmus zu studieren, durch die Welt zu reisen und viele junge Deutsche kennenzulernen.  Auch wenn unsere Charaktere etwas verschieden sind, sind wir trotzdem kulturell ziemlich ähnlich. Ich bin außerdem blond, habe blaue Augen und bin sehr weiß, sodass viele Leute es beim ersten Anblick glauben, ich sei Deutsch. Aber bevor ich Französisch oder Deutsch bin, bin ich einfach ein junger Mensch, der Fremdsprachen kann. In Europa handelt es sich in meinen Augen davon. Täglich stehen wir mit aus anderen Ländern jungen Menschen in Verbindung, und wir denken daran nichts: es ist ganz normal geworden. Wir sind daran gewöhnt, wir werden Freunde, als ob wir aus demselben Land kamen – zumindest diejenigen, die die Möglichkeit gehabt haben, zu verreisen, im Ausland zu studieren, Fremdsprachen zu lernen. Wir nehmen einen Autobus, einen Zug oder einen Flugzeug kontrolllos. Grenzenlos. Wir befinden uns in einem anderen Land ohne Barriere. Wir verlassen uns aufeinander. Alles scheint, in Ordnung zu sein.

Aber das stimmt doch nicht. Die EU macht eine Krise durch. Und wenn die EU eine Krise durchmacht, dann sind unsere Führer daran schuld. Ebenso nationale wie europäische Führer, die dazu unfähig sind, sich miteinander zu einigen. Denn wir, die jungen Franzosen, Deutschen, Österreicher, Tschechen, Griechen, Engländer, Letten, usw. sind oft miteinander einverstanden und solidarisch. Das heißt, das Problem kommt von den „alten“ und den führenden Klassen.

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Ich habe die modernen deutschen Bundeskanzler immer bewundert: Kohl, Schmidt, Schröder und Sie, Frau Merkel. Besonders Sie, denn sie sind am Ruder, seit ich das Alter habe, mich für die Politik und die EU zu interessieren. Sie sind nach dem „goldenen Alter“ der EU am Ruder angekommen, nach der Einsetzung des gemeinsamen Binnenmarkts, des Schengen-Raums, Erasmus, der gemeinsamen Währung, usw. Anders gesagt: nach Konzepten, die für einige gebeutelt sind, wozu die Krisen der Subprimes 2007, der Arbeitslosigkeit, des Brexits, der illegalen Immigration, des Populismus und Griechenlands, sich hinzufügen.

Als Zugpferd der EU erwartet man viel von Deutschland und von Ihnen. Man erwartet, dass Sie dieses sinkende Boot retten. Und wenn ein Problem nicht sofort gelöst wird oder ein neues vorkommt, dann wird Ihnen die Schuld gegeben. Die EU gibt Ihnen die Schuld, denn Sie würden sie verwenden, um die Interessen Ihres eigenen Lands wahrzunehmen. Die anderen europäischen Staatschefs lassen es sagen, das passt Ihnen immerhin. Auf diese Weise sollen sie keinen Verantwortungsstück auf seinen Schultern tragen, was das heutige Debakel der EU betrifft, auch wenn sie sich verweigern, mutige Entscheidungen zu treffen. Und Ihr Beliebtheitswert sinkt – zugleich Europaweit und innerhalb von Ihrem eigenen Land. Das Thema besteht aber doch darin, die Probleme Deutschlands sind die Probleme Europas. Die Probleme Frankreichs sind die Probleme Europas. Die Probleme Ungarn sind ebenfalls die Probleme Europas. Usw. Und die können nur durch EU-Konsens gelöst werden, das müssen wir alle verstehen. Ohne Konsens werden keine Lösungen auftauchen, und Probleme sammeln sich also an, denn es gibt oft keinen Konsens. Die Probleme der 28 – 27 wie Sie es in Ihren Reden schon sagen – können Sie nicht alleine lösen. Ich bin mit den von Ihnen vorgeschlagenen Lösungen nicht immer einverstanden, aber ich respektiere sie, weil Sie wahrscheinlich die einzige Staatsoberhaupt sind, deren Vorschläge hieb-und stichfest sind. Die Sparpolitik in Europa, die „Bereinigung“ der griechischen Krise, etc. wurden zwar von Ihnen vorgeschlagen und unter Ihrem Druck festgelegen, aber am Ende hat sie die ganze EU akzeptiert. Das war doch ein Konsens und auf keinen Fall eine unilaterale Entscheidung. Wieso wurden diese Ideen akzeptiert? Weil die anderen Führer keine andere Idee oder keinen anderen Plan hatten. Und das wird Ihnen unter der Wahrung vorgeworfen, es sind unbeliebte Entscheidungen. Die Wahrheit ist aber doch, alle verstecken sich hinter Ihnen.

Man sagt, Sie seien gefühlskalt und unsensibel. Wenn ich mich Ihre Reden anschaue, dann sehe ich zuerst und vor allem eine von den Verantwortungen gezeichnete, erschöpfte Frau. Ich sehe eine vernünftige, vernunftbegabte Frau, die Überzeugungen hat. Ich sehe eine Wissenschaftlerin. Ich sehe eine strenge Frau, die sich bemüht. Ich sehe eine ehrliche, diskrete Frau. Ich sehe eine fleißige Frau, die ihren Besten gibt. Kurz gefasst: ich sehe einen Mensch, der (zu) viele Verantwortungen hat. Gefühlskalt? Vielleicht, vielleicht nicht. Und dann?

Wer ich außerdem nicht sehe, ist eine Frau, die ihr ganzes Leben davon geträumt hat, Bundeskanzlerin zu werden. Ich sehe keinen persönlichen Ehrgeiz in Ihrem Tun – ganz im Gegenteil zu vielen Führern der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen. Ich sehe keine Frau, die korrupt aussieht, am Geld interessiert ist und vom Privatsektor gedungen ist. Ich sehe keine Elitedenkerin. Kurz gesagt: ich sehe keine Politikerin. Und das ist ganz genau, was ich in Ihnen mag, was in meinen Augen Ihre Sympathie macht: oft reicht es, dass ein Staatschef kein ausgebildeter Politiker ist, damit wir ihn mögen. Denn Politiker haben heutzutage einen schlechten Ruf: sie sind alles, was Sie nicht sind, und sie sind nichts, was Sie sind. Also ja, ich bewundere Sie, ich vertraue Ihnen. Ich bewundere Ihren Mut, Ihre Menschlichkeit, Ihren Humanismus, dass Sie die Tür vor der Nase der Migranten nicht geknallt haben, dass Sie sich eines anderen belehren lassen, dass Sie sich nicht aufblasen lassen, wenn Sie eine Wohltat begehen.

Im Moment sind Sie meiner Meinung nach der einzige Führer, der wirklich europäisch ist. Ich glaube sogar, viele junge Europäer sind derselben Meinung. Und ich glaube auch, es ist wichtig, es zu betonen – oder wenigstens, die Leuten daran zu erinnern. Es ist wichtig, dass wir, die europäische Jugendlichkeit, uns bei Ihnen für Ihre Arbeit zu Gunsten von uns allen bedanken. Wir haben die nationalen Staatschefs, die die EU wegen ihrer heimischen Probleme ständig zurechtweisen und die europäischen Führern, die die Mitgliedsstaaten wegen ihrer Funktionsstörungen ständig zurechtweisen, satt, weil sie einfach keine Lösung finden können. Ich wende mich daher an Sie, Frau Merkel, nicht als junger Franzose, sondern als junger Europäer: vielen Dank. Vielen Dank für alles, was Sie machen, denn ohne Sie wäre die EU schon längst im Wasser versunken. Ich träume von einer EU, die ihre Werte nicht leugnen würde, die gerecht wäre, in der alle dieselben Möglichkeiten hätten. Sie ist im Moment leider sehr weit von diesem Ideal entfernt.  Aber ich bin ein Europäer. Sie sind eine Europäerin. Wir sind alle Europäer und Europäerinnen. Wir müssen uns daran bewusst sein.

Es ist mir schon klar, ich habe kein Recht, Sie das zu fragen, aber das mache ich trotzdem: kämpfen Sie um die EU fort, lassen Sie uns nicht zurück. Halten Sie sich die Treue, halten Sie den europäischen Werten die Treue – vielleicht doch mit weniger restriktiver EU-Haushaltspolitik! Mit der Wahl von Donald Trump sehen wir gerade schon bei einem anderen Weltordnungsentwurf zu: die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königsreich, Israel, Russland und China verstehen sich ganz gut. Es gibt Chaos im Mittleren Osten. Die EU soll auf jeden Preis solidarisch sein. Die Mitgliedsstaaten können es sich nicht leisten, alleine zu sein: wir sind einfach zu klein. Wir müssen uns auch verstehen und solidarisch sein, uns aufeinander verlassen können. Wir brauchen Einheit. Das wäre im Übrigen keine schlechte Idee, unsere Kooperation mit Lateinamerika und der Karibik zu vertiefen, insofern als sie in der Einflusssphäre der Vereinigten Staaten wahrscheinlich nicht längst bleiben werden.

Ich weiß ja, eine Ermunterungsbotschaft kann sich als rettend erweisen. Nun aber neigen wir dazu, es zu vergessen, dass sogar ein Staatsoberhaupt ab und an eine solche Botschaft brauchen kann. Sie, Frau Merkel, verkörpern die Seele der EU und das verdient, dass wir, die EU-Bürger, es erkennen.

Verzeihen Sie mir mein Deutsch – ich habe fast kein Deutsch in den letzten acht Jahren gesprochen – aber ich habe mein Bestes getan, genauso wie Sie.

Laurent, ein überzeugter Europäer